Ein Mann, ein Hund und die Zahl 41
Es ist schon ein paar Wochen her, dass ich Markus Diegmann im Nachtcafé gesehen habe. Und normalerweise gehört diese Talkshow zu den Sendungen, mit denen ich mich sonntagsmorgens zum Kaffee auf der Couch berieseln lasse. Das Schicksal des schätzungsweise zehn Jahre älteren Mannes geht mir diesmal aber wochenlang nicht aus dem Kopf.
Deshalb habe ich beschlossen, Diegmann mit meinen Möglichkeiten zu unterstützen, indem ich auf ihn und seine Arbeit aufmerksam mache. Bitte habt Verständnis, dass der heutige Blogeintrag ernster ausfällt, als ihr es vielleicht von unserer Seite gewohnt seid.
Wer ist dieser Mann?
Die bittere Wahrheit: Er ist einer von Vielen, denen in frühen Lebensjahren das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit und ein glückliches Erwachsensein genommen wurde. Markus Diegmann wurde neun Jahre lang sexuell missbraucht, nach mehreren Therapien ist er vom „Opfer“ zum „Überlebenden“ geworden, so schreibt er auf seiner Internetseite. Und er ist noch lange nicht am Ziel seiner Suche nach innerem Frieden. Nach vielen erfolgreichen Jahren im Berufsleben holt ihn die Vergangenheit ein, Erinnerungen werden immer präsenter und schmerzhafter. Seit dreieinhalb Jahren ist Diegmann auf der Suche nach einem Therapieplatz zur Behandlung chronisch komplexer Traumata, was sich mit bestehender Erwerbsunfähigkeit und entsprechender kassenärztlicher Versorgung schwierig gestaltet. Immer an seiner Seite: Herr Picasso, ein Australian Shephard und sein Assistenzhund. Derartige Therapien sind langwierig, aber mindestens genau so wichtig. Was mich an jenem Sonntagmorgen fasziniert hat, beschreibt er selbst am besten auf seiner Webseite:
Die fehlende Behandlung zwingt mich dazu, für mich zu sorgen. Durch die Erwerbsunfähigkeit sind die finanziellen Mittel sehr beschränkt und ermöglichen mir kein zufriedenes Leben. Zukunftsängste und finanzielle Sorgen sind nicht förderlich. Der Unterhalt einer Wohnung mit allen Nebenkosten und GEZ-Gebühren, von denen ich nicht befreit werde, ist gerade so möglich. Aber dafür leidet die Ernährung, und einen PKW könnte ich nicht unterhalten. Mich motiviert dieser Zustand zur Selbsthilfe. Ich reduziere mich so, dass ich über die Runden komme und ziehe in ein Wohnmobil. Ich werde Betroffene über Hilfestellen und weiteren Amtlichen stellen zur Heilbehandlung informieren. Betroffene können sich besser mit betroffenen austauschen. Die Scham ist nicht so ausgeprägt.
Tour 41

Quelle: http://www.pexels.com
Diegmann tingelt nun also durch Deutschland, in seinem Tempo, und vor allem unabhängig von seiner Umwelt. An öffentlichen Plätzen, bei Veranstaltungen ist er zu finden, klärt auf, hört zu und gibt denjenigen eine Stimme, denen die Worte fehlen. Er kämpft gegen seine eigene und die Ohnmacht zigtausender Kinder und auch betroffener Erwachsener. Die Zahl 41 steht für die Anzahl an Kindern, die pro Tag von einem Erwachsenen missbraucht werden und deren Gegenwart und Zukunft von Ängsten, Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation bestimmt sind.
Im Kampf gegen die Verjährung
Es scheint unfassbar, dass bei dem schwergewichtigen Thema des sexuellen Missbrauchs an Kindern zur Verurteilung von Tätern immer noch Verjährungsfristen gelten. Ich schäme mich ehrlich gesagt für unseren Gesetzgeber, der an dieser Stelle mit der Würde des Menschen umgeht, als würde sie irgendwie von selbst nachwachsen. Es gibt nur sehr wenige Betroffene, die (aus Sicht der Umwelt) ein halbwegs „unauffälliges“ Leben führen können. Die Schatten in Form von Depressionen, Panikattacken oder anderen Anzeichen von Posttraumatischen Belastungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und anderen seelischen Erkrankungen sind nicht sichtbar wie ein gebrochener Arm oder eine Schürfwunde. Und sie heilen auch nicht so leicht wieder aus.
Für die Abschaffung von Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch an Kindern sammelt Markus Diegmann 1.000.000 Unterschriften, die er dem Bundesministerium für Familie übergeben wird. Vielleicht ist er mit der Tour 41 und dem Wohnmobil gerade nicht in eurer Nähe unterwegs. Deswegen gibt es eine entsprechende Unterschriftenliste zum Download auf der Homepage.
Jeder kennt Betroffene
Gestern war es bei mir soweit: Ich habe die Unterschriftenliste ausgedruckt und mich auf den Weg gemacht. Angefangen habe ich auf der Arbeit. Und was soll ich sagen… ich war erschrocken und gerührt zugleich. Gerührt, weil das Feedback zur Aktion durch die Bank positiv war. Binnen einer halben Stunde hatte ich über 20 Unterschriften zusammen. Erschrocken, weil jeder Dritte mir eine Geschichte zum Thema erzählen konnte. Am tiefsten bewegt hat mich die Geschichte einer jungen Frau, die mir erzählte, wochenlang unter Begleitschutz der Kriminalpolizei zur Grundschule gegangen zu sein. Sie stand als potenzielle Zielperson mit ihrem Namen auf der „Liste“ des verurteilten Mörders und Sexualstraftäters Marc Dutroux. Man stelle sich das vor! Wer den Fall nicht kennt, wirft einen kurzen Blick in den Eintrag bei Wikipedia. (Selbstverständlich habe ich sie gefragt, ob sie mit der anonymen Nennung ihrer Geschichte einverstanden ist!) Aber auch die weniger prominenten Geschichten oder Erfahrungen mit weniger dramatischem Ausmaß hängen mir nach. Missbrauch fängt schließlich nicht erst bei der eigentlichen Penetration an.

Quelle: http://www.tour41.net
Weiter in die Tiefe möchte ich thematisch nicht gehen. Ich trage als Bloggerin in gewisser Weise die Verantwortung für meine Leserschaft und möchte niemanden antriggern, dem das Thema zu schwer ist. Wer mag, macht sich seine eigenen Gedanken. Vielleicht habt ihr Lust, auch etwas zu tun? Ich würde mich jedenfalls wahnsinnig freuen, wenn der Ein oder Andere diese Liste ebenfalls ausdrucken und befüllt an den Verein zurückschicken würde. Den Mut und die Stärke von Markus Diegmann ist bewundernswert und verdient jede Form der Unterstützung. Diejenigen, die ich auf dem Hundeplatz treffe, können mich gerne ansprechen – ich habe die Liste dabei!
Übrigens gibt es auf der Seite der Tour 41 auch Hilfestellungen, z.B. Antworten auf die Frage, wie Partner und Angehörige Betroffene bestmöglich unterstützen können.
Danke fürs Lesen, passt auf euch auf!
Ich finde es super was er tut! Ich selbst bin auch Betroffene und habe auch meine eigene Seite!
http://www.derschreiinsleben.de
Super das du das geteilt hadt! Danke für den Bericht!
Die Kraft und den Mut sind absolut bewundernswert!
Toll, dass du es auch schaffst, damit offen umzugehen! Danke für deinen Link, ich werde mir die Seite ansehen. Liebe Grüße aus Neuss
Hallo!
Ein toller Artikel, wenn man einen solchen überhaupt als ‚toll’bezeichnen darf. Dieses Thema ist ebenso traurig wie auch ermutigend, sich der Sache anzunehmen und diese zu unterstützen!
Auf geht’s, Markus Diegmann! Ich werde unterstützen. Wir hatten heute unser erstes Gespräch und werden uns nächste Woche treffen. Du möchtest auch helfen? Wir vernetzen uns, damit Paragraph 1 des Grundgesetzes seinen Sinn, auch gerade für Betroffene, aufrecht erhält!
Ulrich Becker 01708684599 Helping Hands needed
Danke für das nette Feedback. Und toll, dass Sie sich engagieren!
Je mehr, desto besser! Ich habe inzwischen einige Unterschriften zusammen und werde sie bald an Markus Diegmann weiterleiten. :-)
Liebe Betina Imhof,
ich hoffe das Du ist in Ordnung? Dein Blog Eintrag ist so klasse geschrieben. Ich ziehe meinen Hut vor dir und danke dir von ganzem Herzen dafür. Es bestärkt mich so sehr, wenn ich wahrgenommen werde. Mir liegen die Kinder so am Herzen.
Mir wurde durch meine Biographie die Möglichkeit genommen mit meinen eigenen Kindern zu leben. Den Alltag haben, mit allen guten und schlechten Zeiten. Dennoch suche ich schon mein Leben lang nach meiner eigenen Familie, bis zum Ausbruch meines Traumata. Heute ist mir bewusst, und ich kann damit gut leben, dass ich nicht Beziehungsfähig bin. So gern ich das auch möchte und mir erträume.
Ich habe mir meine Alte Überlebensstrategie zu Nutze gemacht und verwende meine Stärken für die Tour41. Berichte, wie der Deine, zeigen mir jeden Tag das unsere Kinder es verdienen das sich jemand vor sie stellt. Meine Kindheit und alles was daran hängt, ist mir genommen worden, dazu fehlte mir die Liebe, Geborgenheit und vor allem Sicherheit im eigenen Elternhaus. Das möchte ich jedem Kind ersparen.
Herzlichen Dank für deine Unterstützung
Picasso & Markus
Hallo Markus,
natürlich ist das „Du“ in Ordnung. :-)
Vielen Dank für die lieben Worte – in den nächsten Tagen gehen meine Listen raus an dich.
Wünsche dir weiterhin viel Kraft auf deinem Weg, und v.a. endlich eine Zusage für deinen Therapieplatz!!
Viele Grüße aus Neuss
Am Wochenende steht Markus mit Seinem Tour41-Mobil in Wipperfürth auf dem Westfälischen Hansetagen! Wer nicht zu weit weg wohnt ist gerne willkommen um Gespräche zu führen und seine Unterschrift dazulassen.
Wir freuen uns auf Eure Unterstützung!
Uli Becker
Hallo Herr Becker,
leider habe ich Ihren Hinweis zu spät gesehen, sonst hätte ich den Termin noch einmal geteilt… :-/